Wer Schön sein soll, muß leiden

BRD, 1998
Dauer: 09:34 min
Ein Beitrag von Florian Beck und Christian Schnelting

Possierlich waren sie, die schwarz getupften Welpenberge, die im Frühjahr hierzulande als „101 Dalmatiner“ durch die Kinos tobten. In Amerika, wo der Film ein paar Monate vorher angelaufen war, hat sich die Nachfrage nach Dalmatinern in kürzester Zeit verfünffacht. Auch hier in Deutschland stieg das Interesse an. Was die wenigsten Interessenten wissen: Mit den netten schwarzen (manchmal braunen) Tupfen verknüpft ist ein hohes Risiko, daß die gezüchteten Tiere taub werden. Rund 3% der Dalmatiner sind auf beiden Ohren taub, etwa ein Siebtel auf einem Ohr. Züchter, die aus stark erhöhter Nachfrage (wie sie sowohl bei der Zeichentrick- als auch bei der Realfilmversion von „101 Dalmatiner“ die Regel ist) Kapital schlagen wollen, ignorieren oft die Regeln umsichtiger Zucht.
Szenenwechsel: Zu Besuch bei Rassehunde- und Katzenshows. Es gewinnt das Tier, das den Schönheitskriterien der Richter am ehesten entspricht. Diese jedoch berücksichtigen nicht primär die Gesundheit und das Wohlbefinden des Tieres, sondern orientieren sich nach den Rassestandards (bei Hunden vom  Verband für das Deutsche Hundewesen (VDH) festgelegt) und Modetrends. Das Resultat: Züchtungen, die das Wohlbefinden der Tiere außer Acht lassen. Wer als Züchter in solchen Wettbewerben Preise gewinnen will, muß Perserkatzen vorführen, die erblich ein erhöhtes Taubheits- oder Blindheitsrisiko haben, Basset-Hunde mit viel zu langen Ohren und Rücken auf den Parcours schicken und Bernhardiner mit entzündeten Augenunterlidern präsentieren. (Die Liste läßt sich beliebig fortsetzenfür nahezu alle Haustierarten. Eine „repräsentative“ Auswahl, z.B. Meerschweinchen mit 50 Zentimeter langen Haaren oder zur Nahrungsmittelaufnahme unfähige Aquarienfische wollen wir auch zeigen).
Züchtungen dieser Art kommen vor allem aus dem Ausland, verweisen deutsche Züchterverbände für Katzen und Hunde gerne – hierzulande würden Tiere, deren Fortpflanzung für die Nachkommen schädlich sein könnte, aus der Zucht genommen. Doch wer wie der VDH im Rassestandard kupierte Ohren verlangt, obwohl das kupieren mittlerweile in Deutschland verboten ist, fördert Qualzüchtungen. Und so lange im Rassestandard für Schäferhunde festgelegt ist, daß nur Tiere mit 10 Zentimeter niedrigeren Hinterläufen als Vorderläufen überhaupt zu Wettkämpfen zugelassen werden, besteht weiterhin das Risiko der schmerzhaften und letzlich zur vorzeitigen Einschläferung führenden Hüftgelenksdysplasie.
Dieser Mix aus Publikumsinteresse und Züchterwahn, das Spannungsfeld zwischen den „101 Dalmatinern“ und dem Pokal für die englische Bulldogge mit der plattesten Nase (und damit potentiell den größten Atmungsschwierigkeiten) ist die wesentliche Ursache für Schmerzen und Leiden verursachende Tierzüchtungen bei Haustieren. Ist der gute deutsche Schäferhund allerdings bereits eine „Qualzüchtung“ im Sinn des deutschen Tierschutzgesetzes? Darüber streiten die Experten – unter anderem in einer Komission beim Bundeslandwirtschaftsministerium. Dort wird daran gearbeitet, einen Kriterienkatalog zu entwickeln, der das zu verwaschene Bundesgesetz zu präzisieren. Paragraph 11 b des Tierschutzgesetzes verbietet zwar „Wirbeltiere zu züchten, wenn der Züchter damit rechnen muß, daß bei der Nachzucht aufgrund vererbter Merkmale Körperteile oder Organe für den artgemäßen Gebrauch fehlen oder untauglich oder umgestaltet sind und hierdurch Schmerzen, Leiden oder Schäden auftreten“. Doch erst einmal kam es bisher zu einer Verurteilung wegen Qualzüchtungen. Angeblich soll dieser Katalog noch in diesem Jahr veröffentlicht werden – und stößt schon jetzt auf Kritik. Rechtsbindende Wirkung beispielsweise wird er nicht haben. Was bleibt, sind Erfahrungsberichte von Hundebesitzern sowie Blicke in die Geschichte, die erkennen lassen, wie aus einst soliden Rassen (Schäferhunde, Boxer) über die Jahrzehnte krankheitsanfällige Tiere gezüchtet wurden.
Am Ende steht ein Appell an die Vernunft der Haustierkäufer. Denn auch und gerade bei Tieren bestimmt die Nachfrage den Markt. Und wenn nach einem anrührenden Film oder Werbespot (Beispiel Golden Retriever) nicht jeder zu x-beliebigen Tierhändlern rennt, um sich ein vermeintlich gesundes Rasse-Tier zu kaufen, sinkt das Risiko rein am Geschäftemachen orientierter Qualzüchtungen automatisch – und auch weniger Dalmatiner mit ererbten Gehörschäden kommen zur Welt. Stattdessen sollte der potentielle Tierkäufer vielleicht lieber den Weg ins Tierheim antreten, wo meist eine Vielzahl von Promenadenmischungen auf neue Besitzer warten. Und die sind von Qualzuchten nach oben beschriebenem Muster nicht betroffen.

Wer Schön sein soll, muß leiden
zuletzt im TV:
  • 01.09.1998, 00:34 Uhr - ZDF
    Achtung, lebende Tiere!

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